Prokrastination. Psychoanalyse und gesellschaftlicher Kontext.

Bericht zur Kick-Off Tagung

Am letzten Novemberwochenende 2016 verorteten Prof. Dr. Christine Kirchhoff und ihr Forschungsteam, bestehend aus Carolin Schnackenberg und Tom Uhlig, auf einem Symposion das qualitative Forschungsprojekt zum Phänomen der Prokrastination in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und öffneten die Diskussionen außerdem für ein interessiertes Publikum. Mit den ReferentInnen wurden unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen nach ihrem Erkenntnisgehalt befragt; die experimentelle Psychologie zu ihren empirischen Ergebnissen, die antike Mythologie in ihrer Symbolträchtigkeit, das Theater in seinem Darstellungsgeschick, und die Psychoanalyse nach ihren theoretischen Konzepten aus der praktischen Arbeit. Die Vogelperspektive wird für die folgenden Seiten beibehalten, um ein vielseitiges Bild von Prokrastination zu skizzieren. Nicht nur wegen des schillernden Begriffes scheint sie – die Prokrastination - in aller Munde, vielmehr lässt sich vermuten, dass nicht selten von Prokrastination gesprochen wird, weil es ein Phänomen ist, welches vielerlei Menschen wenigstens einmal über den Weg gelaufen ist; ob beim Anruf der anstrengenden Verwandten, Büro- oder Entrümpelungsarbeiten. Oft begegnet man einem Schmunzeln oder gar Lachen, wenn man davon zu sprechen beginnt. Man erntet belustigende Zustimmung und scheint außerdem auf Einigkeit darüber zu stoßen, dass es sich um ein Aufschieben handelt, dass so richtig nicht gewollt ist, beziehungsweise etwas ‚Wichtiges‘ zu Gunsten der Erledigung meist alltäglicher und belangloserer Aufgaben verschoben wird. Da liegt die Frage nahe, wenn es nicht gewollt ist, und der Prokrastinierende darum weiß, warum es dennoch passiert? Und wenn eine Mehrzahl an Menschen etwas mit diesem Begriff verbindet, ob es nicht mehr als ein individueller Widerspruch ist?

Die psychologische Forschung beschäftigt sich seit dem Ende der 1970er Jahre mit diesem Phänomen und hat einiges zur Erklärung beigetragen; doch was fehlt, stellt die Forschungsleiterin Prof. Dr. Christine Kirchhoff während der Eröffnung der Tagung fest, ist eine psychoanalytische Sicht in der Konzeptualisierung von Prokrastination. Auch vermisst sie die Kontextualisierung des individuellen Erlebens von Prokrastination in einer Zeit des ökonomischen und sozialen Wandels seit Mitte der 1970er Jahre, welcher als Reaktion auf die Krise des späten Kapitalismus in soziologischen und kulturtheoretischen Schriften besprochen wird.

Im Rahmen einer qualitativen Forschung, sollen 16 Digital Natives (Jugendliche zwischen 20 und 35, die mit Arbeitstechniken am Computer sozialisiert wurden) aus Studenten und Berufstätigen zusammen gesetzt, interviewt werden. Im Anschluss wird eine Forschungsgruppe die Transkripte der Interviews tiefenhermeneutisch interpretieren.

Lassen wir nun den Blick über die interdisziplinäre Forschungstagung schweifen, und verharren bei einer, m.E. besonderen Liebschaft zweier Wissenschaften; das von Trennung und Vereinigung geprägte Bündnis der Psychoanalyse und Kunst. Manchmal ergänzen sie sich, nehmen dem Anderen etwas vorweg, verstricken sich und schaffen einen Perspektivwechsel bei der Beschäftigung mit einem Gegenstand.

Dass Prokrastination explizit mit Zeitlichkeit zusammenhängt, wird nicht nur dann sichtbar, wenn die Zeit zur Erledigung einer Aufgabe schon verstrichen ist. Irene Lehmann (Zwischenspiele – Zu ästhetischen Zeitformen des Aufschiebens) führt mit ihrem Vortrag das besondere Privileg des Theaters ein: dieses hat, wie auch andere Kunstformen – bei den erzählenden und darstellenden jedoch besonders anschaulich – das Privileg einer eigenen Zeit. Innerhalb der Erzählzeit kann über große und kleine Dimensionen der erzählenden Zeit verfügt werden; Autoren können sie schrumpfen, ausdehnen oder durch Pausen in denen ‚nichts passiert‘ unterbrechen. Diese Pausen werden seit dem 16 Jhd. ursprünglich wegen Umbauunterbrechungen innerhalb von Opernaufführungen, als Intermezzi oder Zwischenspiele bezeichnet; heuer am Theater auch Lückenbüßer genannt. Oft stehen sie im Kontrast zu dem Hauptstück und sind diesem untergeordnet, obgleich sie eigene kompositorische und dramaturgische Elemente verfolgen können, oder einfach eine Sequenz bezeichnen, währenddessen auf der Bühne ‚Nichts‘ passiert.

Brüche und vermeintliche Momente des Stillstandes in kultureller Entwicklung, definiert die Referentin als nicht-lineare Zeitstruktur und erkennt hier den Nährboden für Kreativität und Fortschritt. Mit der ästhetischen Theorie zu Marthalers und Quesnes Theaterformen arbeitet sie a. Muse und Reaktanz des Aufschiebens und Verzögerns heraus und b. schafft sie eine Analogie zum Melancholiekonzept von Freud. Das Musische prokrastinativer Phänomene setzt auch ein Privileg voraus: Zeit zur Verfügung haben. Betrachtet man die Entscheidung etwas später fertig zu stellen als einen Raum in dem Gedanken zusammengefügt, weitergeführt und reflektiert werden, sehen wir einen Wunsch des Individuums etwas ausschöpfend beenden zu wollen. Keinen Gedanken auf der Hälfte nieder schreiben, lieber erneut und ausgedehnt reflektieren. Auf den richtigen Zeitpunkt warten und dann beherzt handeln. Dieser Wunsch hat wenig Anschein des Müßiggehens oder gar vor einer Aufgabe zu resignieren, ganz im Gegenteil kann dieses Verhalten dafür sorgen, dass eine Sphäre der kreativen und intellektuellen Entfaltung entsteht, in dem die Arbeit mit Verve beendet werden kann. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dieses Privileg ein sehr seltenes ist. Oft wird über Mangel an Zeit und einem Gefühl von stetiger Beschleunigung gesprochen, welches sich für das Individuum als Insuffizienz- und Überforderungsempfinden auswirken kann.

Bleiben wir dennoch kurz bei der ‚richtigen‘ Zeit und schauen auf einen anderen hervorragenden Ansatz der Prokrastinationserklärung. Dr. Anja Kauß (Der diskrete Charme der Prokrastination) ist Verfasserin einer Begriffsgeschichte der Prokrastination und beschreibt in dieser einen Menschen, der sich des Kairos-Momentes bewusst ist und an jenem orientiert; er hat eine kritische und bedachte Haltung, kann Konflikte, deren Lösung noch nicht naht aussitzen und hält sich lieber zurück bevor er allzu voreilig handelt oder sich gar von blindem Gehorsam treiben zu lassen. Kairos ist die Figur eines antiken Gottes der den günstigen Augenblick repräsentiert. Bekommt man seinen langen Zopf an der Stirn zu fassen ist er für diesen Moment der eigene, verpasst man ihn und streicht vielleicht nur seinen kahlen Hinterkopf, kann er einen nachteiligen Effekt bedeuten. Doch Kairos ist schnell, sehr schnell, mit Flügeln an den Füßen und einem Messer in der Hand signalisiert er, dass der günstige Moment eine sehr scharfe Angelegenheit ist. Wer ihm hinterherjagt wird verzweifelt und abgehetzt doch nur im Bilde seines kahlen Schädels bleiben. So steht er auch im Dienste der Belehrung über das richtige Zeitbewusstsein. Verflixter noch wird der Kairos-Moment, wenn man dessen gewahr wird, dass er sich erst retrospektiv zu erkennen gibt, daher bleibt die Kairos-Figur, wenn auch bedeutungsvoll und lehrreich-metaphorisch, ein Mythos.

Im Plenum wurde diskutiert, was auf der Messerschneide passiert, wenn das Wissen um den richtigen Zeitpunkt in ein immerwährendes Warten auf diesen entscheidenden Moment, oder in eine Angst der Zeit hinter her zu rennen, kippt? Und: wie sei ein strategisches Verzögern bei politischem oder privatem Handeln in ein Konzept der Prokrastination ein zu fügen?

Zurück zu Irene Lehmann und der Analogiebildung zum Melancholie Konzept (Freud, 1917/1915). Es ist ein gelungener Gedankenankt um einen Zusammenhang zwischen Zeit und Prokrastination theoretisch zu erfassen. Die Überwindung eines Objektverlustes, wie es mittels des Traueraktes möglich wird, setzt voraus, dass das Subjekt sich des Verlustes bewusst wird, ihn annimmt und dem Realitätsprinzip folgt, ein neues Objekt mit libidinöser Energie besetzt. In der Melancholie ist das nicht der Fall, hier wird der Objektverlust – kurz gesagt – als ein Selbstverlust wahrgenommen, die Möglichkeit zur libidinösen Neubesetzung bleibt dem Subjekt verwehrt und es verliert seine Interessen, Freude an sozialen Beziehungen und die Vorstellungen einer eigenen Zukunft. In diesem Falle ist das Zeitempfinden aufgelöst, der Moment des Objektverlustes bleibt scheinbar in der kürzesten Vergangenheit, gar Gegenwart des Subjektes, und es kann keine Zukunft mehr ohne das Verlorene vorgestellt werden. Auch ist auffällig, dass während des Festhaltens am verlorenen Objekt, der unmögliche Versuch gemacht wird die Vergangenheit in Gegenwart zu verwandeln. Die Referentin verwies hier auf das Bild der sich selbst verschlingenden Zeit in der Melancholie. Das Paradox der Zeit und des Prokrastinierens wird hiermit eingehend gezeichnet. Die Analogie scheint auch daher sehr gut zu funktionieren, da das Konzept der Melancholie in Abgrenzung zur Trauer auf den wichtigen Unterschied zwischen bewusst ablaufenden und unbewussten Prozessen hinweist.

Beim Phänomen des Aufschiebens ist eine differenzierte Betrachtung der bewussten und unbewussten Aspekte womöglich sehr hilfreich, nicht nur um zu verstehen, was Prokrastination ist, sondern um eventuell auch einen Ausweg aus ihr weisen zu können. Damit will ich darauf hinweisen, dass im prokrastinativen Handeln eine Aufgabe nicht in der für sie gesetzten Zeit erledigt wird, anstatt dessen resignatives Verhalten zu beobachten ist; oft bleibt Prokrastination nicht ein einmaliger Akt, sondern charakterisiert eine Weise des Individuums sich mit Aufgaben auseinanderzusetzen. Der eingangs beschriebene Widerspruch, aber auch das absurd erscheinende Nicht-Erledigen einer Aufgabe, die auch vom Individuum als leicht zu erledigen eingeschätzt wird, lässt doch stark vermuten, dass es sich bei dieser Schwierigkeit nicht um eine zwischen Tätigkeit und Individuum, sondern vielmehr zwischen Individuum und anderen grundlegenden Konflikten handelt.

Die Zeit in der mutmaßlicher Weise ‚Nichts‘ passiert kennt auch die psychoanalytische Praxis und fragt sich, ob es bedeutet, dass der psychoanalytische Prozess derweil ins Stocken gerät? Ein solches ‚Nichts‘ würde sich im Schweigen des Patienten oder seinem Protest gegenüber dem Analytiker äußern. Weiter spricht man von solcher Abwehr, wenn in das Deutungsangebot verbal eingefallen wird. Der Psychoanalytiker Anton O. Kris (Free Association: Method and Process, 1982) hat die bedingenden und beeinflussenden Faktoren des freien Assoziierens auf der Couch untersucht, und aus der psychoanalytisch praktischen Erfahrung einen theoretischen Ansatz formuliert. So beobachtet und beschreibt Kris ein Wechselspiel von a. einer Zunahme der freien Assoziation – durch die widerstandshemmende Position des Liegens auf der Couch – und b. einer spontanen Zunahme einer ‚Gegenkraft‘, die sich hingegen in Widerstand und Abwehr äußert. Christoph Eissing (A.O. Kris und der „divergent conflict“, eine frühe Theoriebildung der Prokrastination?) stellte die Manifestation dieser Gegenkraft ganz im Sinne Kris als prokrastinatives Phänomen auf der Tagung für das Publikum dar. Nach Kris entstehe dieses aus einem divergenten, d.h. präödipalen, Triebabwehrkonflikt. Dieser Konflikt stellt „ein Entweder-Oder-Dilemma dar, welches für das Subjekt unlösbar scheint und zu diversen Spielarten der Verzögerung führt“ (Christoph Eissing auf der Tagung). In Anknüpfung an diese Gedanken, kann man sich fragen, inwieweit ein pathologisches oder latentes Aufschieben Ausweg aus einem frühen Triebabwehrkonflikt darstellt und Prokrastination als Kompromissbildung zu verstehen ist.

Überdies schließt der Referent vom Primat des Angstempfindens einen Schluss zur Urform des prokrastinativen Verhaltens. Er verweist darauf, dass Menschen in Angstsituationen sexuelle und orale Triebwünsche aufschieben um die Kräfte gegen das Angstobjekt zu sammeln.

Was vom Analytiker in der Sitzung als Abwehr oder Widerstand gedeutet und von diesem auch als unangenehm empfunden werden kann, eröffnet die Seite des Prokrastinativen, wenn die Person auf Kairos‘ Messerschneide hinübergefallen ist und das leidvolle Symptom sich äußert. Der Volksmund mahnt (nicht umsonst?), wenn er sagt: „Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen!“ Damit scheint implizit auf jene Schwierigkeiten verwiesen zu werden, wenn ‚zu viel‘ prokrastiniert wird. Wie also ist das Verhältnis vom kreativen Später-Erledigen – wie es von Irene Lehmann und Dr. Anja Kauß vorgestellt wurde – zu einem problematischen Aufschieben zu beschreiben?

Dazu hat die experimentelle Psychologie Einiges zu sagen. Solange Otermin (Transkulturelle Entwicklung des Prokrastinationskonzeptes) stellt in ihrem Vortrag u. A. die Frage inwieweit das Verschieben von zu erledigenden Tätigkeiten in Dysfunktionalität aufgeht. Einige theoretische Aspekte und Überlegungen aus dem Bereich der klinischen Arbeit sollen hier eingeführt werden. Es lohnt zu fragen, ob es sich um chronifiziertes, ursprünglich kreatives Aufschieben handelt, oder vielleicht sogar eine spezifische Persönlichkeitsstruktur des Verzögerns fest zu stellen ist; auch wurde in der psychologischen Forschung untersucht wie Prokrastination mit anderen Charaktereigenschaften korreliert. Während im Englischen die dichotome Bedeutung des Begriffes im Wort ‚procrastination‘ positive wie negative Aspekte vereint; wird in der deutschen Definition hingegen - seit Beginn der Forschungen wird hiermit ein psychologisches Phänomen beschrieben - nur die destruktiv-dysfunktionale Seite in der Definition aufgenommen. Solange Otermin zitiert hierzu Steel (2007) der von einer freiwilligen Verzögerung des Erledigens einer Aufgabe spricht und hinzufügt, dass der Betroffene weiß, dass diese Verzögerung einen Nachteil mit sich bringen wird. Die experimentelle Psychologie untersucht ausgehend von dieser Definition konsequent inwieweit Prokrastination ätiologisch oder symptomatisch ist.

Transkulturelle Zusammenhänge zu ziehen, stellt sich an diesem Punkt der Forschungslage schwer dar, so die Referentin, da noch kein konkretes und erklärungsreiches Konzept existiert, was anhand von Modifikationen unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede untersucht werden kann. Dass Prokrastination nicht gleich Prokrastination ist, scheint jedoch relativ einstimmig anerkannt, sodass Gedanken und Ansätze formuliert werden, Prokrastination mit diversen Spezifika zu charakterisieren; man spricht von Erregungs-, Entscheidungs- und Vermeidungsprokrastination. Auch wird das psychologische Konzept der Verzögerung, welches der Prokrastination sehr nahe steht, jedoch different zum Aufschieben zu verstehen ist, herangezogen um eine Unterscheidung zwischen destruktiver und konstruktiver Prokrastination theoretisch erklären zu können.

Gehen wir an dieser Stelle davon aus, dass Aufschiebe- oder Verzögerungsverhalten ein Akt der Psyche ist und auf diese wiederum einwirkt, kommen wir dennoch nicht umhin – wie es sich in den Diskussionen während der Tagung recht bald zeigte, als man versuchte zu verstehen, warum prokrastiniert wird – diese in einem Menschen zu verorten, der nicht unabhängig von Sozialem, oder gar autonom innerhalb der Gesellschaft agiert und Aufgaben erledigt. Eine besonders interessante Beobachtung des Arbeitsalltages und dem Umgang des Individuums mit den zeitlichen Bestimmungen stellte Dr. Franz J. Schaudy (Prokrastination – Präkrastination. Eine unheilige Allianz) vor. In seinem Alltag als Wirtschaftspsychologe und psychologischer Berater in Unternehmen beginnt er dann seine Tätigkeit, wenn eine bisher gut funktionierende Struktur, oder ein Beteiligter dieser ins Wanken gerät. Er berichtete von zwei Fällen, in denen sich Personen höherer Position vor einem belastenden Konflikt sehen. Sie seien sehr verantwortungsbewusst und neigen dazu die täglichen Aufgaben so schnell wie möglich an zu gehen und zu beenden. Der nun zu erwartende leere Schreibtisch – oder gar die intrinsische Belohnung (Rosenbaum) - tritt jedoch nicht ein und sie würden, aus Angst den Anforderungen, die ihnen gestellt würden, nicht mehr gerecht werden zu können, häufig das Private aufschieben um das Pensum an Erledigtem zu steigern. Die Familie leide darunter, der im Arbeitsleben Präkrastinierende leide darunter, sowie die Qualität der Arbeit. Die Schneide zwischen Lustgewinn und Unlustgefühl scheint auch bei Präkrastination scharf und ein Kippen in Zweiteres zu Trübsinn und Insuffizienzempfinden zu führen.

Im akademischen Alltag hat sich mit der Bologna-Reform einiges nicht nur formell, sondern auch praktisch verändert. Hans-Werner Rückert (Prokrastination à la Bolognese) ist Psychoanalytiker und Leiter der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin, dort ist er in seinem Arbeitsalltag häufig mit Prokrastination konfrontiert, und kann ihre Formen und Bedingungen während des alten Studiensystems mit denen seit der Bologna-Reform vergleichen. Belastungs- und Resilienzfaktoren sind in beiden Systemen Teil des Entwicklungs- und Ausbildungsprozesses Studium. Prokrastination beobachtete er schon vor der Studienreform und unverändert im Empfinden der Studenten und Studentinnen seit der Reform, jedoch stellt er als zentrale Veränderung fest, dass Prokrastination unter den Studierenden weitaus früher auftritt; waren es im alten System noch diejenigen die schon einige Studienjahre hinter sich haben und Hilfe aufsuchen um aufgeschobene Arbeiten fertigzustellen, bzw. ein effektiveres akademisches Arbeiten zu lernen, sind es jetzt schon Erst- und Zweitsemester die in Arbeitspensum-Zeit-Schwierigkeiten geraten. Hans-Werner Rückert zieht einen Bogen von den individuellen Symptomen über die akademischen Bedingungen bis hin zu der sogenannten ‚neoliberalen Wende‘, die aufgrund des Leistungs- und Konkurrenzdrucks entstandenen Ängste vor Prekarisierung forciert. In diesem Kontext könnte eine Prokrastination also als Befreiungsversuch oder kritisches Reaktanzverhalten verstanden werden, doch so einfach stellt sich der Sachverhalt nicht dar. Er bemerkt, dass sich Strategien zu und Möglichkeiten der Verhaltensänderung häufen, und dabei die Reflexion auf die Voraussetzungen und die eigene Subjektivität unter diesen ausblieben. Hinzukäme, dass er während Gesprächen und seiner beratenden Tätigkeit oft auf viel grundlegendere Konfliktinhalte stieße die bis zu diesem Moment der Kollision meist unerkannt blieben.

Abschließend ist es mir wichtig einige methodische Überlegungen zusammen zu fassen. Für eine theoretische Erklärung eines Phänomens wie das der Prokrastination scheint es wichtig unterschiedliche Aspekte für sich zu beobachten und erst nach genauerer Analyse in eine Wechselbeziehung aus subjektivem Empfinden und objektiven Lebensverhältnissen ein zu fügen. Eine interdisziplinäre Untersuchung des Phänomens ist äußerst hilfreich, um Psychodynamik und Psychopathologie besser zu verstehen.

Sophia Hirschhausen